Von Jürgen Weil
Der Verein „Weilburg erinnert“ sucht Menschen, die als Kinder oder Jugendliche Weilburg und die Oberlahnregion von 1933 bis 1945 erlebt haben, hier wohnten oder zur Schule gingen und bereit sind, darüber vor laufender Kamera der Videoproduktionsfirma WEILBURG-TV zu berichten. Angesprochen sind also Zeitzeugen, die über 80 Jahre alt sind und spannende und lehrreiche Geschichten aus der Nazizeit erzählen können, bevor sie in Vergessenheit geraten.
Weilburg erinnert e.V. möchte gerne diese Zeitzeugenberichte per Film erfassen und danach öffentlich zugänglich machen, um es den nachfolgenden Generationen zu ermöglichen, sich ein authentisches Bild vom Leben im Alltag des Nationalsozialismus, sei es in der Schule, als Hitlerjunge oder im Bund Deutscher Mädel (BDM), als Soldat oder Krankenschwester im Krieg und seinem Ende in Weilburg, oder von Rassismus und Antisemitismus machen zu können.
Die letzten Zeitzeugen könnten auch helfen, an stille Helden zu erinnern, die furchtlos bereit waren, ihre Meinung zu vertreten, Diskriminierte nicht allein zu lassen, Verfolgte zu unterstützen oder ihnen gar unter Lebensgefahr zur Flucht zu verhelfen. Heimatforscher Joachim Warlies berichtet beispielsweise in seinen Veröffentlichungen von dem Amtsgerichtsrat i. R. Walter Lohmann, der nach der Pogromnacht im November 1938 einen mutigen Leserbrief schrieb zu einem Hetzartikel des Tageblatts gegen die Weilburger Juden.
Ziel des Zeitzeugenprojektes von „Weilburg erinnert“ und „Weilburg TV“ ist es, dass sich die Jugend von heute eine Vorstellung von den Lebensverhältnissen und dem Überlebenskampf machen kann, vor allem als Mahnung, damit sich die NS-Geschichte nicht wiederholt. Im Namen Deutschlands waren halb Europa in Schutt und Asche gelegt, Millionen von Menschen ermordet, die von der Wehrmacht besetzten Länder ausgeplündert und über sechs Millionen Menschen in die Zwangsarbeit verschleppt worden. Letztlich sorgten die Siegermächte dafür, dass nach dem Ende des II. Weltkrieges mit der Niederlage des Faschismus zumindest im Westen die Grundlagen geschaffen wurden für Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Menschenrechte und Frieden.
„Was als selbstverständlich in unserer Gesellschaft galt, ist heute wieder in Gefahr in einer Zeit, in der Rechtspopulisten hetzen und bedrohen und infolgedessen rechte Gewalt zunimmt“, sagt der 1. Vorsitzende von „Weilburg erinnert“, Markus Huth. Das würden die NSU-Morde zeigen, der Mord an Walter Lübcke, der Anschlag auf die Synagoge in Halle, die Bluttat von Hanau und die vielfältigen Bedrohungen von engagierten Demokraten, die sich ehrenamtlich und couragiert ‚gegen rechts‘ und gegen das Vergessen positionierten. Jetzt gelte, was Dietrich Bonhoeffer 1933 so ausgedrückt hat: „Es reicht nicht, die Opfer unter dem Rad zu verbinden. Man muss dem Rad selbst in die Speichen fallen.“
Den Verharmlosern in der AfD mit Worten vom Holocaust als „Vogelschiss der Geschichte“, von „Schuld-Kult“ oder „Erinnerungsdiktatur“ begegnet „Weilburg erinnert“ mit seinen Projekten für „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Getragen von der gleichen Einsicht, die auch der Limburger Stadtarchivar Christoph Waldecker am 2. Februar in einem Interview formuliert hat: „Die Kenntnisse der Geschichte könnten am Ende die Wahlen beeinflussen, denn wer die Geschichte kennt, wählt am Ende demokratische Parteien und nicht rassistische.“ (hl-journal)
Manche der letzten Zeitzeugen, denen noch die Flucht aus Deutschland gelang, besuchen Gedenkveranstaltungen oder melden sich wie Jodi Moses aus den USA, die sich in Briefen dankbar und gerührt zeigte für das Verlegen von Stolpersteinen für ihre Großeltern im Dezember in Villmar. Holocaust-Überlebende gehen auch in ihrem hohen Alter immer noch in die Schulen und schildern ihre Erlebnisse vom Überleben in den Todeslagern. Sie hoffen, wie die 96-jährige Esther Bejarano, dass die Jugend ihre Geschichten immer weiter erzählt: „Ihr seid nicht schuldig für das, was damals geschehen ist, aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts von der Geschichte wissen wollt“, sagt sie in einem Einspieler der ARD-Tagesthemen am 27. Januar.„Auch die Weilburger Zeitzeugen“, so Markus Huth, „könnten mit ihren Geschichten ein lebendiges Zeugnis abgeben, das in eine friedliche Zukunft wirkt.“ Und Bärbel Kamphausen-Muser, Schriftführerin des Vereins, betont: „Nie wieder Krieg. Nie wieder Faschismus! Dazu möchten wir als Verein hier in der Region einen Beitrag leisten.“
Jetzt zum Jahrestag der rechtsextremistisch motivierten Morde an neun Hanauern mit ausländischen Wurzeln zeigen sich viele wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seiner Trauerrede am 20. Februar 2020 immer noch „fassungslos im Angesicht des Grauens“, wieder mitten in Deutschland, 76 Jahre nach der Shoa. Für „Weilburg erinnert“ bedeutet das, nicht bis zum nächsten Anschlag warten, täglich im Alltag Flagge zeigen, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, auf dem Schulhof. Aus der Geschichte lernend sich mit Personen solidarisieren, die von diskriminierenden und menschenverachtenden Anfeindungen, ‚Hate Speech‘, betroffen sind, direkt und mit öffentlichen Statements, im Alltag und in sozialen Medien, sich positionieren mit einer klaren Haltung für gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Verteidigung der Menschenrechte und ein demokratisches Miteinander.
Wer Interesse hat, am Weilburger Zeitzeugenprojekt mitzuwirken und 1945 mindestens 5 Jahre alt war, meldet sich beim Kassierer des Vereins, Manfred Schiebel. Die Kontaktaufnahme kann telefonisch (06471 –392 59), per E-Mail: zeitzeugen@weilburg-erinnert.de oder postalisch erfolgen: Weilburg erinnert e. V., Postfach 11 68, 35771 Weilburg. Das Interviewteam kommt auch nach Hause oder ins Altenheim. Das Projekt soll im Sommer dieses Jahres starten und bis Dezember abgeschlossen sein. Strengste Hygienemaßnahmen werden eingehalten, um die Zeitzeugen vor einer Ansteckungsgefahr mit dem Corona-Virus zu schützen.
Beitragsbild oben: Marsch der Weilburger Hitlerjugend in der Umgebung von Weilburg, 1933-1939“, in: Historische Bilddokumente https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/bd/id/47-013 (Stand: 8.3.2011)