Die evangelische und die katholische Kirchengemeinde Weilburg, der „Arbeitskreis Friedensgebet“ und der Verein „Weilburg erinnert“ hatten alle Bürger aus Weilburg und Umgebung zu einer Gedenkveranstaltung für Freitag, 9. November 2018, um 18.00 Uhr in die Weilburger Schlosskirche eingeladen.
Im November 2018 jährten sich die Novemberpogrome des Jahres 1938 zum 80. Mal. Mit der „Machtergreifung“ des Jahres 1933 wurden Deutsche jüdischer Herkunft zunehmend diskriminiert, aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen und ihrer Bürgerrechte beraubt. In Weilburg selbst, Hochburg der NSDAP, setzte bereits mit dem Jahr 1933 der frühe Exodus jüdischer Bürger ein, die 86 jüdischen Weilburger waren nachweislich seit 1932 massivem politischen und gesellschaftlichen Druck ausgesetzt. Im Jahr 1935 lebten nur noch 45 von ihnen in ihrer Heimat, die beiden letzten Geschäfte waren zum Zeitpunkt der Novemberpogrome 1938 infolge der Boykottmaßnahmen bereits aufgegeben worden, das Synagogengebäude in der Bogengasse 2 wurde im September 1938 verkauft. Die jüdische Gemeinde löste sich zum 31. Oktober auf.
Am Nachmittag des 10. November 1938 wurden die Häuser und Wohnungen der 18 noch in Weilburg verbliebenen Bürger jüdischer Herkunft zerstört, das Mobiliar geplündert, so in der Limburger Straße 35 (Max Forst), Bahnhofstraße 5 (Familie Sternberg), Niedergasse 6 (Familie Falk) und Niedergasse 10 (Familie Arnstein/Wallach). Adolf Wallach stirbt zwei Jahre später an den Folgen einer schweren Kopfverletzung, durch den Schlag mit einem Kronleuchter verursacht. Die jüdischen Weilburger Max Falk, sein Schwiegersohn Jakob Erich Simon, Adolf Wallach, Hans Adler, Hans Bauer, Siegmund Bravmann, Max Geismar und Adolf Joel werden in Konzentrationslager verschleppt und dort grundlos gefangen gehalten. Für die infolge des Pogroms entstandenen Kosten müssen die Geschädigten selbst aufkommen. Das wird zynisch als „Sühneleistung“ bezeichnet, die sogenannte Judenvermögensabgabe trifft auch Adolf Falk, Max Wallach, Rosa Arnstein, Charlotte Kirchberger, Toni Sternberg und Cilla Niedrée. Die Novemberpogrome des Jahres 1938 markieren eine Zäsur: Menschen jüdischer Herkunft müssen erleben, dass sie in ihrer Heimat nicht mehr sicher sind und auch bei gesetzeswidrigen Attacken keinerlei Schutz zu erwarten haben. 13 Personen gelingt 1939 noch die Flucht, etwa 50 waren vorher schon ausgewandert. 44 jüdische Weilburger werden Opfer der NS-Verbrechen, die meisten in Konzentrationslagern ermordet. Insgesamt 73 jüdische Opfer aus der Region Weilburg findet Historikerin Martina Hartmann-Menz in diversen Unterlagen, ihre Namen werden in der Schlosskirche verlesen.
„80 Jahre sind diese schlimmen Ereignisse nun her und wie schön wäre es, wenn wir heute sagen könnten, die Menschen hätten etwas aus der Geschichte gelernt“, sagte Hilmar Dutine, katholischer Gemeindereferent. Inzwischen sei rechtes Gedankengut sogar wieder im Deutschen Bundestag beheimatet. „Was früher Juden waren, sind 2018 die geflüchteten Menschen“, sagte Dutine. Es werde wieder hoffähig, Unvorstellbares zu denken und dies auch ungestraft zu äußern.
So manches Mal sei ein „Fliegenschiss in der deutschen Geschichte“ in Wahrheit ein übermächtiger brauner Haufen. Und dies sei nicht weit weg. „Ich bin erschrocken und war zutiefst entsetzt, dass hier in Weilburg vor zwei Wochen bei der Landtagswahl 859 Menschen, 14,8 Prozent der Wähler, ihre Stimme einer Partei gegeben haben, die sich in die Zeit von 1938 zurück sehnt“, sagte Dutine.“ (Sabine Gorenflo, Weilburger Tageblatt vom 13.11.2018)
„Wer nicht erinnert, vergisst. Wer vergisst, kann schuldig werden“, lautet der Leitspruch des Vereins „Weilburg erinnert“. „Eine aktuell wieder bedeutsam werdende Einsicht“, sagt der Vorsitzende Markus Huth. Im Gottesdienst wird mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter auf parallele Ereignisse in Geschichte und Gegenwart verwiesen, wo Menschen zuschauen oder gleichgültig bleiben oder gar Beifall spenden, alles „eine Bankrotterklärung der Barmherzigkeit“, sagte der evangelische Pfarrer Guido Hepke. Friedensgebete und Fürbitten, die exemplarische Vorstellung der Biografien jüdischer Bürger und Verfolgter des NS-Regimes, die Verlesung der Namen der Opfer jüdischer Herkunft aus der Region Weilburg durch Schülerinnen und Schüler von Weilburger Schulen sowie das Verlesen der Namen jüdischer Patientinnen und Patienten aus der Anstalt Weilmünster haben an millionenfaches Leid erinnert. „Ein schöner Gottesdienst, sehr berührend, er hat mich wirklich zum Nachdenken gebracht!“, sagte Schülerin und Vorleserin Michelle Bau (15).
Die Veranstalter waren sich einig, mit dieser Form der Erinnerung unter dem Dach der Kirche einen Beitrag für eine Zukunft in Vielfalt zu leisten und deutlich zu machen, dass die Weilburger Bürgerschaft entschlossen ist, ein wahrnehmbares und erkennbares Zeichen gegen Antisemitismus, Rassismus und Menschenverachtung zu setzen.
Foto Copyright: Sabine Gorenflo
Verfasser des Artikels: Jürgen Weil