Beitragsbild: V.l. Manfred Schiebel (Weilburg erinnert e. V.), Alwin Meyer (Referent), Neithard Dahlen (Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e. V.) und Thomas Magyar (Wilhelm-Knapp-Schule Weilburg)
Alwin Meyer berichtete in der WKS von Kindern, die das Konzentrationslager überlebten
Mindestens 232.000 Säuglinge sowie Kinder und Jugendliche im Alter bis 17 Jahre wurden nach Auschwitz verschleppt. Davon waren allein 216.300 jüdischer Abstammung, 11.000 Roma und Sinti, 3.120 nichtjüdische Polen, 1.140 Belarussen, Russen und Ukrainer. Hinzu kamen noch Kinder und Jugendliche anderer Nationen. Lediglich 750 Kinder und Jugendliche waren noch am Leben als das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee befreit wurde. 521 dieser Kinder waren zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre und jünger. Unter ihnen waren 60 Neugeborene, von denen mehrere kurze Zeit später an den Folgen von Auschwitz starben.
„Die Kinder von Auschwitz“ war der Titel eines Vortrags in der Aula der Wilhelm-Knapp-Schule (WKS) Weilburg in dem Alwin Meyer über die Schicksale der Kinder berichtete, die den Holocaust und den Horror des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau überlebt hatten. Es war ganz leise in der voll besetzten Schulaula, als Alwin Meyer über seine zahlreichen Gespräche mit Menschen berichtete, die als Kinder in Auschwitz waren. Anhand von Einzelschicksalen zeigte der Referent auf, welchen Grausamkeiten die Menschen in Auschwitz ausgesetzt waren, wie willkürlich und unberechenbar die Nationalsozialisten über Leben und Tod entschieden und dass das Überleben reiner Zufall war. Auch wurden die Kinder – insbesondere Zwillinge – durch den gefürchteten KZ-Arzt Josef Mengele für verabscheuungswürdige Menschenversuche missbraucht. Viele der Betroffenen haben sich später gefragt: „Warum habe gerade ich überlebt?“ In seinem einfühlsamen Vortrag verzichtete Alwin Meyer auf Belehrungen mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern ließ durch Zitate die Betroffenen selbst zu Wort kommen, was seine Wirkung auf die Zuhörer nicht verfehlte, die seinen Ausführungen gebannt, aber auch entsetzt lauschten.
Schwangere Frauen befanden sich in Auschwitz in einer ausweglosen Situation, erläuterte Alwin Meyer. Entweder wurden sie mit Phenolinjektionen direkt ins Herz getötet, erschossen, vergast oder totgeschlagen. Gelegentlich konnten sie ihre Schwangerschaft verbergen und ihr Kind heimlich entbinden. Wurde dies jedoch entdeckt, so bedeutete das den Tod des Säuglings. Kleine Kinder wurden in Auschwitz fast immer sofort ermordet. Wenn eine Mutter ihr Kind bei der Eingangs-Selektion auf dem Arm hielt, wurden beide vergast, trug jedoch zufällig die Großmutter den Jungen oder das Mädchen, wurde diese mit dem Kind ermordet. Der auch schon damals allgemein geltende Grundsatz vom Schutz für Kinder, Kranke und alte Menschen wurde von den Nationalsozialisten ins Gegenteil verkehrt: „Wer als Arbeitskraft nicht missbraucht werden konnte, hatte keine Daseinsberechtigung.“
Alwin Meyer, der 1950 in Cloppenburg geboren wurde, begann in den 1970er Jahren mit der weltweiten Spurensuche nach Menschen, die Auschwitz als Kind – teilweise sogar als Baby – überlebt hatten. In vielen Ländern führte er Gespräche, hörte zu, fragte nach, kam wieder, fotografierte und filmte. Dies war ein langer Prozess, denn er musste erst das Vertrauen der Menschen gewinnen, die ihm gegenübersaßen, bevor sie sich gegenüber ihm – einem Deutschen – öffneten und ihre Lebensgeschichte mit ihm teilten. Zu dem Thema „Kinder von Auschwitz“ hat Alwin Meyer mehrere Ausstellungen präsentiert und Bücher veröffentlicht, die in Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Japan, den Niederlanden sowie in den USA veröffentlich wurden. 1982 wurde der Autor mit dem Preis „Das politische Buch“ der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnet und 2021 mit dem Übersetzungsförderungspreis „Geisteswissenschaften International“ durch die Fritz-Thyssen-Stiftung, die VG Wort, den Börsenverein des Deutschen Buchhandels und das Auswärtige Amt.
Eröffnet wurde die Veranstaltung in der WKS durch Schulleiterin Dr. Ulla Carina Reitz, die Alwin Meyer als „Zeitzeugen der Zeitzeugen“ sowie als „Sprachrohr der Kinder der Konzentrationslager“ begrüßte. Ihr Dank galt auch dem Verein „Weilburg erinnert“, der seit nunmehr fünf Jahren existiert und es sich zur Aufgabe gemacht hat, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten, insbesondere an der jüdischen Bevölkerung, aber auch an anderen Menschen, nicht in Vergessenheit geraten. Der Verein setzt sich für die Stärkung des Demokratiegedankens und gegen Diktatur ein und will dazu beitragen, dass sich „rechtes Gedankengut“ in Deutschland nicht wieder ausbreitet. „Weilburg erinnert“ war federführend daran beteiligt, dass der Vortrag von Alwin Meyer in der WKS stattfinden konnte. Vertreten war Verein durch Vorstandsmitglied Manfred Schiebel, der die Arbeit und Ziele des Vereins vorstellte und sich bei der Schule bedankte, dass sie durch die Veranstaltung dazu beitrage, die Erinnerung zu bewahren.
Zu den Gästen, die Dr. Ulla Carina Reitz empfing, gehörte auch Neithard Dahlen, der Mitglied des Auschwitz-Komitees ist. „Auschwitz – ein Wort, welches mich immer wieder erschauern lässt, weil alle Schrecken vor dem geistigen Auge auftauchen!“, gab die Schulleiterin einen Einblick in ihre innere Gefühlswelt und führte weiter aus: „Ich wünsche uns heute Erinnerungen, die verhindern, dass Europa, dass die Welt noch einmal von solchem Terror und Schrecken beherrscht wird.“ Leider seien wir davon nicht allzu weit entfernt, meinte die Oberstudiendirektorin mit Blick auf zunehmenden Rechtsextremismus in Deutschland und den Krieg in der Ukraine. „Daher meine Hoffnung, dass Veranstaltungen wie diese, mit so vielen jungen Menschen dazu beitragen, uns wieder von Gewalt, Krieg und Extremismus zu entfernen!“, betonte Dr. Ulla Carina Reitz. Ihr besonderer Dank galt ihrem Lehrerkollegen Thomas Magyar, der sich mit viel Engagement und Einsatz darum gekümmert habe, dass der Vortrag an der Wilhelm-Knapp-Schule stattfinden könne.
Bevor Alwin Meyer in seinem einfühlsamen, sachlichen und sehr sensiblen Vortrag, die Schicksale einzelner Kinder, die in Auschwitz inhaftiert waren, darstellte und seine ergreifenden Ausführungen durch Fotografien der Betroffenen veranschaulichte, führte Neithard Dahlen als Mitglied des Auschwitz-Komitees in die Thematik ein. „Wir denken an den Tag der Befreiung. Gedenken heißt mehr als sich nur zu erinnern. Gedenken ist Arbeit und schließt die demütige Würdigung des Leidens der Opfer mit ein. Gedenken wird aktiv reflektiert und nachempfunden und ändert, korrigiert und / oder prägt die eigene Haltung. Haltung ist permanente selbstkritische Arbeit. Und diese Werte-Haltung gibt uns im Leben auch Halt!“ sagte Neithard Dahlen und zitierte kurz darauf den Psychologen Peter Lauster, der in einem Buch über die Liebe schreibt: „Das Gegenteil von Liebe ist nicht der Hass. – Das Gegenteil von Liebe ist die Gleichgültigkeit!“ Hass ist für Peter Lauster eine Unterform der Liebe, ein „Gefühl“ mit negativen Vorzeichen. Hass entspringe aus mangelndem Selbstvertrauen und entstehe aus der Angst unterlegen zu sein und auf der Strecke zu bleiben und diese Angst habe ihren Ursprung in dem Gefühl der Unsicherheit. „Unsicherheit entsteht aus Unwissenheit. Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen Wissen und Bildung anbieten, damit Ängste sich nicht entwickeln können. […] Achten wir auf unsere Worte, denn Worte sind verräterisch. Die Worte gehen den Taten immer voraus“, erläuterte Neithard Dahlen und fügte an: „Der Hass ist der Boden und die Worte sind der Dünger für die Verbrechen, welche die Gleichgültigkeit zulässt.“ Daher seien Veranstaltungen wie diese in der WKS wichtig, die zu Aufklärung, Erinnerung, Information und Bildung beitragen.
Eine Ausstellung zum Thema „Die Kinder von Auschwitz“ ist seit dem 9. Mai bis zum 29. Mai in der Wetzlarer Stadtbibliothek, Bahnhofstraße 6 zu besichtigen und vom 6. Juni bis 30. Juni im Johanneum Gymnasium Herborn, Otto-Wels Straße 1 a.
Text © Andreas Böttig / WKS
Beitragsbild © Weilburg erinnert e. V. über Manfred Schiebel